Narrative gelungener Demokratie: Geschichte – Politik – Recht

Narrative gelungener Demokratie: Geschichte – Politik – Recht

Organisatoren
Universität Salzburg; Salzburger Landtag
Ort
digital (Salzburg)
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.02.2021 - 05.02.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Judith Grosch, Abteilung für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) Universität München

Narrative rund um das Thema Demokratie prägen zeitgenössische Strukturen auf nationaler wie globaler Ebene so stark wie selten zuvor. Doch welche Narrative über misslungene und gelungene Demokratie sind es eigentlich, die Akteure in Geschichte und Gegenwart erzählten und erzählen? Und welche Wirkmächtigkeit haben diese Narrative für vergangene und gegenwärtige politische Debatten? Diesen Fragen ging die durch die Universität Salzburg und den Salzburger Landtag online veranstaltete Tagung nach, die sowohl die Disziplinen Geschichte, Politik und Recht als auch internationale Perspektiven aus Österreich, Deutschland und der Schweiz zusammenführte.

GÜNTHER SANDNER (Wien) verfolgte die These, dass die österreichische Erste Republik als Narrativ ein wichtiger Bezugspunkt bei der Errichtung der Zweiten Republik darstellte. Die SPÖ (Sozialdemokratische Partei Österreichs) habe sich zu Beginn der Zweiten Republik noch stark mit der Ersten Republik identifiziert und sei dabei vor allem der Idee des deutschen Anschlusses verhaftet geblieben. Allerdings näherten die beiden Großparteien SPÖ und ÖVP (Österreichische Volkspartei) ab der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre zunehmend ihr Geschichtsverständnis einander an, woraufhin sich auch in der SPÖ negative Narrative gegenüber der Ersten Republik als unerwünschtes und gescheitertes Provisorium häuften, welche bis heute die Geschichtsschreibung dominierten.

Zu einer sehr ähnlichen Erkenntnis führte der Vortrag von DIRK RUPNOW (Innsbruck), welcher erläuterte, warum die Demokratie keine besonders präsente Erzählung in der österreichischen Zeitgeschichte darstelle. Schon die Erste Republik werde als gescheitert erzählt. In der Schulbildung der 1940er-, 50er- und 60er-Jahre stand die Erzählung von der Unabhängigkeit und Zusammengehörigkeit Österreichs im Vordergrund. Das läge auch an den beiden konkurrierenden Lagern der österreichischen Geschichte, von denen eines pro Österreich, aber antidemokratisch gewesen sei, während das andere sich für die Demokratie, aber auch den deutschen Anschluss einsetzte. Daher existierten wenige Voraussetzungen für eine Erzählung, die Demokratie und Österreichbewusstsein zusammenbrachte, weshalb sich im Nationalbewusstsein bis heute der Aspekt der österreichischen Unabhängigkeit vor der Demokratie durchgesetzt habe.

Über die verfassungsrechtlichen Kontinuitäten in Österreich referierte REINHARD KLAUSHOFER (Salzburg), der vor allem deutlich machen konnte, dass sich die Erste Republik beim Entwurf ihrer Verfassung stark an der konstitutionellen Monarchie orientierte und daher nicht den Ursprung der österreichischen Verfassung darstellte. Doch auch im Übergang zur Zweiten Republik sei die Verfassung der Ersten Republik eins zu eins übernommen worden, da die Befürchtung bestand, neue Aushandlungen könnten alte Gräben aufreißen und nationalsozialistische Linien in den Parteien offenlegen. Somit arbeiten Juristinnen und Juristen in Österreich heute noch auf Basis der Verfassung der Ersten Republik.

MARGIT REITER (Salzburg) erläuterte, dass die Parlaments-konstituierende Sitzung des österreichischen Nationalrats am 19. Dezember 1945 vor allem als Wiedergeburt der Republik verstanden worden sei und damit in erster Linie als ein Bekenntnis zur Unabhängigkeit Österreichs, nicht zur Demokratie. Auch die Regierungsparteien forderten lediglich Lippenbekenntnisse zur Demokratie. Die Alliierten hingegen leiteten eine grundlegende Umerziehung zu demokratischen Werten ein, wofür der jüngere Teil der Bevölkerung durchaus empfänglich war. Beim älteren Teil hatten die Maßnahmen oftmals den gegenteiligen Effekt, Antisemitismus und Antiamerikanismus zu verstärken. Gleichzeitig leiteten die Parteien ihre Legitimität aus der Demokratie ab, weshalb sich früh das Narrativ einer gelungenen Demokratie entfaltete und man sich an demokratische Prozesse anpasste, es jedoch gleichzeitig nicht zwangsläufig zu einer Hinwendung zu demokratischen Grundprinzipien kam.

Ähnliche Entwicklungen konnte GUDRUN HENTGES (Köln) für die Bundesrepublik nachzeichnen. Sie illustrierte beispielhaft anhand der Entwicklung der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), wie viele Kontinuitäten seit dem Nationalsozialismus noch bis in die 1960er-Jahre hinein bestanden und demokratischen Narrativen widerliefen. Die 1952 zunächst als Bundeszentrale für Heimatdienst gegründete Institution kümmerte sich noch bis 1999 ausschließlich um „das deutsche Volk“ und verfolgte oftmals konkurrierende Ziele zu den Reeducation-Maßnahmen der Alliierten, mit welchen die BpB heute zumeist in Verbindung gebracht wird. Auch wurden Frauen zur politischen Passivität animiert. Gleichzeitig wehrten sich viele der politischen Akteure der 1950er-Jahre vehement gegen Theorien wie die „Kollektivschuld“ des deutschen Volkes. 1963 kam es zur Umbenennung in „Bundeszentrale für politische Bildung“, doch erst die fortschreitenden 1960er-Jahre und insbesondere 1968 leiteten mehr kritische Kontroversen ein. Erst seit den 1970er-Jahren sei die Bundesrepublik damit von einer formalen in eine tatsächliche Demokratie übergegangen.

CHRISTIAN HEUER (Graz) sprach zum Thema der Geschichtsschulbücher, die gegenwärtig im österreichischen Schulunterricht ein recht konkurrenzloses Narrativ vermittelten, welches nationale Identität im Klassenzimmer stark vorpräge. Die Demokratie werde dabei als geglücktes Erziehungsergebnis einer männlichen Elite präsentiert. Das größte Defizit sei aber, dass Geschichtsschulbücher kein Narrativ anböten, das in Gegenwart und Zukunft zum Gelingen der Demokratie beitragen könne, da Demokratisierung als ein bereits abgeschlossener Prozess dargestellt würde. Damit käme den Schülerinnen und Schülern keine aktive Rolle der Mitgestaltung der Demokratie zu, sondern lediglich die Aufgabe, in dieser bereits existierenden Demokratie zu leben.

Diese Perspektive ergänzte THOMAS HELLMUTH (Wien) um einen historischen Blick auf die politische Bildung in Österreich nach 1945, die mehr eine Entpolitisierung als eine demokratische Umerziehung dargestellt habe. Didaktische Wenden in den 1960er- und 1970er-Jahren hätten zwar zusammen mit dem Begriff des „Aktivbürgers“ einen etwas größeren Fokus auf die handlungsfähige Demokratie gelenkt, dennoch habe auch hier vor allem die Erziehung zum „Österreichbewusstsein“ im Vordergrund gestanden. Erst seit den 2000er-Jahren habe sich der handlungsorientierte Demokratiebegriff in den Schulen durchgesetzt. Dennoch hätten Lehrkräfte häufig noch eine relativ konventionelle Vorstellung von politischer Partizipation, die sich vor allem auf Wahlbeteiligung konzentriere und keine active citizenship vorsehe.

Diese Erkenntnisse über das österreichische Schulwesen konnte CHRISTOPH KÜHBERGER (Salzburg) mit einem Blick auf die Salzburger Lehramtsstudierenden bestätigen, die im Jahr 2020 ein sehr einheitliches Narrativ über die österreichische Demokratie erzählten, welche darin wie ein beinahe Akteurs-leerer und sehr statischer Raum wirke, in dem keine Konflikte ausgetragen würden und wenig persönlicher Handlungsraum bestünde.

Um diesem Mangel an Erziehung mit politischem Aktivismus zu begegnen, formulierte BÉATRICE ZIEGLER (Aarau) mit ihrem Vortrag ein Plädoyer, durch politische Bildung an den Schulen sowohl den Willen zum Partizipieren als auch das entsprechende Können zu fördern. Hierbei sollten den Schülerinnen und Schülern Kriterien an die Hand gegeben werden, um spezifische Sachverhalte kompetent beurteilen zu können. Gleichzeitig müssten auch Werthaltungen wie Demokratie und Menschenrechte gefördert werden, wobei diese nicht als alternativlose Meinung aufoktroyiert werden dürften. Ausschließlich so ausgebildete mündige Bürgerinnen und Bürger könnten die Legitimation der Demokratie stärken und zur Nachhaltigkeit von Entscheidungen, zur Berechenbarkeit des politischen Geschehens und zur Achtung der Menschenrechte beitragen.

HEDWIG RICHTER (München) verwies darauf, dass Demokratiegeschichte heute zumeist als Revolution und Resultat eines Kampfes von Männern in Waffen, von „gut gegen böse“, von „unten gegen oben“ erzählt würde. Der Nationalismus sei seit dem 19. Jahrhundert ein wichtiger Gleichheitsmotor gewesen. Seine Exklusionskraft ließ ihn aber bald zu einem rechts-konservativen Konzept werden, das Waffen und Schlachtfelder zelebrierte und Nationalfeiertage militarisierte. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei Nationalgeschichte zwar zunehmend als Demokratiegeschichte erzählt worden, jedoch immer noch als eine Geschichte voller Gewalt und Revolutionen. Richter plädierte dafür, Gewaltnarrative zu relativieren, da friedliche Reformen weitaus üblicher und wirkungsvoller gewesen seien als Revolutionen. Außerdem sprach sie sich dafür aus, Frauen, die für Demokratisierungsprozesse von großer Bedeutung gewesen seien, mitzuerzählen. Zuletzt sprach sie sich auch für die vermehrte Einführung von Gedenktagen aus, die nationale Verbrechen verstärkt in der Erinnerungskultur verankern und einen Gegenpol zu militarisierten Nationalfeiertagen setzen sollten.

REINHARD HEINISCH (Salzburg) machte darauf aufmerksam, dass sich im 20. Jahrhundert die Demokratie trotz des extremen Wettbewerbs verschiedener Herrschaftssysteme konsequent durchgesetzt habe. Heutzutage würde seltener die Demokratie an sich in Frage gestellt als vor allem über verschiedene Demokratieformen debattiert, wobei die Übermacht von Institutionen kritisiert und mehr direkte Partizipationsformen für die Bürger gefordert werden. Die Demokratie werde außerdem aktuell von außen durch Klima- und Flüchtlingskrise, globale Ordnungen sowie konkurrierende Ideologien bedroht. Zu den Bedrohungen von innen zähle die fehlende Bereitwilligkeit der Bürgerschaft, sich für die Demokratie einzusetzen. Der Aufstieg neuer radikaler Parteien stelle eine Gefahr von unten dar. Eine Gefahr von oben existiere in autoritären Demokratien, in denen die gewählten Machthaber Justizapparat, Recht und freie Medien zurückdrängten und die Gewaltenteilung aufweichten.

ANDRÁS JAKAB (Salzburg) referierte über die Funktion politischer Narrative in Österreich. Den Grundrechtsdiskurs der 1960er-Jahre, den sogenannten Ruinendiskurs als auch einen Diskurs über den Parlamentsabsolutismus in den 1920er-Jahren verstand er als Krisennarrative. Auch das von Alexander van der Bellen etablierte Narrativ, der Ibiza-Skandal sei ein erfolgreich bestandener Stresstest für die Verfassung gewesen, verstand Jakab als Mittel der Krisenbewältigung. Die Erzählung von Hans Kelsen als „Vater“ des Bundes-Verfassungsgesetzes (BV-G) stelle ein Erfolgsnarrativ dar, das aber insofern relativiert werden müsse, da die Idee des BV-G nicht von Kelsen entwickelt, sondern nur kodifiziert worden sei. Auch das Narrativ, das B-VG müsse deshalb sehr gut sein, weil es nun schon seit 100 Jahren bestehe, relativierte Jakab dahingehend, dass es im rechtlichen Sinne erst seit 1945 existiere. Narrative erfüllten somit in erster Linie die Funktion, zu vereinfachen und die Wirklichkeit mit einer politischen Agenda zu ordnen.

ZOE LEFKOFRIDI (Salzburg) betonte die Bedeutung von Geschlecht für die Gleichheit der Demokratie, für die politische Interessensvertretung als auch für die Symbolwirkung politischer Institutionen. Auch für die Erhöhung der Zufriedenheit mit der Demokratie sei Diversität nachweislich wichtig. Dennoch gebe es einen deutlich sichtbaren Gender Gap in der Partizipation und der Repräsentation: Sowohl im Parlament als auch in den Parteien seien Frauen in der Regel in der Minderheit, wobei sie vor allem in weiblich konnotierten Ämtern eingesetzt würden. Gründe für solche Gender Gaps seien strukturelle, institutionelle und kulturelle Faktoren. Darüber hinaus gebe es eine „gläserne Decke“, die Frauen daran hindere, bestimmte Positionen zu erreichen – erzeugt durch implizite Annahmen, die Frauen als emotional, passiv, zwar empathischer, daher aber auch konsensorientierter und weniger durchsetzungsfähig stigmatisierten.

THOMAS STEINMAURER (Salzburg) erläuterte aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht, die Digitalisierung habe grundsätzlich mit dem euphorischen Narrativ gestartet, sie könne die Demokratie durch mehr Transparenz, Zugänglichkeit und Teilhabe fördern. Diese Prognosen seien zwar zutreffend gewesen, doch würden viele Potentiale nur bedingt ausgeschöpft, außerdem berge die Digitalisierung aktuell auch Gefahren: Verschwörungnarrative, fake news und hate speech verbreiteten sich schneller. Durch Algorithmen bestehe die Gefahr der Abschottung von einzelnen Diskurswelten, besonders an den Rändern von politischen Extrempositionen. Doch auch Big Data, Microtargeting und einzelne Plattform-Monopole seien aktuelle Herausforderungen, die sowohl verstärkte Regulierungsmaßnahmen von Seiten der Regierung als auch Bildungsmaßnahmen erforderten. Außerdem gebe es bezüglich der Partizipationsmöglichkeiten eine Teilung der Gesellschaft, die durch die Digitalisierung fortgeschrieben werde.

Am Ende der Tagung stand die allgemein geteilte Einsicht, mit welch vielfältigen Problemen die moderne Demokratie zu kämpfen und umzugehen hat und wie wichtig gerade der interdisziplinäre Dialog daher ist. Verschiedene Demokratie-Narrative spielen dabei, so wurde deutlich, eine entscheidende Rolle bei Prozessen der Entscheidungsfindung, bei der politischen Partizipation, der Legitimation und der Ausgestaltung der Demokratie. Gleichzeitig sind die Narrative aber jeweils auf ihre spezifische historische Genese und auf ihren politischen, juristischen und didaktischen Entstehungskontext kritisch zu hinterfragen und sollten daher auch weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher, politischer und öffentlich geführter Debatten sein.

Konferenzübersicht:

Einführung

Brigitta Pallauf (Salzburg): Grußworte

Hendrik Lehnert (Salzburg): Eröffnung

Keynote

Sylvia Kritzinger (Wien): Die Österreicher*innen und ihre Demokratie: Die Balance zwischen Gleichheit und Freiheit

Panel 1: Formierung der Demokratie nach 1945

Günther Sandner (Wien): Die Erste Republik in der Zweiten Republik. Parteipolitische Kontroversen um die österreichische Demokratie

Reinhard Klaushofer (Salzburg): Rechtsdiskurse und Interpretationen zwischen Erster und Zweiter Republik

Margit Reiter (Salzburg): Wie wird man Demokrat*in? Diskurse zur Demokratie nach 1945 in Österreich

Gudrun Hentges (Köln): Narrative gelungener Demokratie am Beispiel der Bundeszentrale für Heimatdienst/Politische Bildung

Panel 2: Entwicklungslinien zwischen 1945 und 2020

Christian Heuer (Graz): Geschichte der Demokratie oder demokratische Geschichte(n)? Österreichische Geschichtsschulbücher als nationale Biographien

Christoph Kühberger (Salzburg): Demokratiegeschichte in Österreich – Verfügbare historische Narrative und politische Haltungen von Lehramtsstudierenden

Thomas Hellmuth (Wien): Die Rolle der Demokratie in Diskursen der Politischen Bildung seit 1945

Hedwig Richter (München): Heldenepos. Demokratiegeschichte als Revolutions- und Kriegserzählung

Dirk Rupnow (Innsbruck): Demokratie ohne Demokratieerzählung? Zu einer Leerstelle der österreichischen Zeitgeschichte

Benjamin Kneihs (Salzburg): Der stabilisierende Charakter des Rechts

Reinhard Heinisch (Salzburg): Politikverdrossenheit vs. Angst um Demokratie aus politikwissenschaftlicher Perspektive

Panel 3: Herausforderungen in der Gegenwart – Verantwortung für die Demokratie

Béatrice Ziegler (Aarau): Warum Demokratie schulische Politische Bildung braucht

András Jakab (Salzburg): Krisen- und Erfolgsnarrative im österreichischen verfassungsrechts-wissenschaftlichen Diskurs

Zoe Lefkofridi (Salzburg): Demokratie und Gender

Thomas Steinmaurer (Salzburg): Digitale Disruptionen in der Demokratie: Die Krise als Auftrag?